„Reform“ als Strukturelement freimaurerischer Geschichte in Deutschland
„Reform“ als Strukturelement freimaurerischer Geschichte in Deutschland
Reformen der Freimaurerei, d. h. Veränderungen ihrer institutionellen Strukturen, ihrer inhaltlichen Konzeptionen und ihrer Rituale, gibt es ebenso lange wie die Freimaurerei selbst.
Kaum hatten die operativen Steinmetze aufgehört, Steine zu bearbeiten und Gebäude zu errichten, kaum waren sie „spekulativ“ geworden, kaum hatten sie mit der Großloge von London und Westminster einen ersten institutionellen Rahmen geschaffen, schon wollte und musste man wissen, welche Richtungen und Inhalte die Spekulationen der Gentlemen Masons – zuerst in London und Großbritannien, bald auch auf dem europäischen Kontinent und anderswo in der Welt – denn nun eigentlich haben sollten.
Es fehlte ja für die Gegenwart von damals und für die Zukunft, die man gestalten wollte, an einer klar definierten institutionellen und konzeptionellen Baugrundlage.
Es existierte – so der Germanist Michael Voges – programma-tisch wie strukturell eine gleichsam „fordernde Leere“, die gefüllt werden musste, und je nach ihren unterschiedlichen Motiven und Interessen, je nach Art und Weise der Zeit-Impulse und der unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Einbettung der Logen schufen sich die Freimaurer im 18. Jahrhundert und in der weiteren Geschichte ihre unterschiedlichen masonischen Welten, und da ihnen diese nie als vollkommen erschienen, hörten die Freimaurer nicht auf, daran herumzubauen.
Die Ausgangsbedingungen stimmten für alle – später so verschiedenen – Freimaurereien weitgehend überein:
- Historische Erinnerung, weltanschauliche Neuorientierung und gesellschaftlicher Wandel waren die für Begründung und Dynamik der Freimaurerei an der Wende zum 18. Jahrhundert wesentlichen Faktoren.
- „Historische Erinnerung“ bedeutete Erinnerung an die Religions- und Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die bei Bevölkerung und Eliten zu schmerzlichen Verlusten an Leib und Leben, an Heimat und Vermögen geführt und einen großen Toleranzbedarf, eine tiefe Sehnsucht nach Brückenschlägen zwischen den religiös und politisch zerstrittenen Parteien zur Folge gehabt hatten.
- „Weltanschauliche Neuorientierung“ meint den vielschichtigen Prozess der Säkularisierung, Individualisierung und Autonomisierung, der im späten 17. und im 18. Jahrhundert mit Macht einsetzte und einen tief greifenden Wandel von Sinnstrukturen und Weltdeutungen mit sich brachte.
- „Gesellschaftlicher Wandel“ – bezieht sich auf die tief greifenden Veränderungen der sozialen und ökonomischen Wirklichkeiten, die mit den Prozessen auf der Ebene des Bewusstseins einhergingen und auch in struktureller Hinsicht die Grundlagen der Moderne schufen.
Die zunehmende standesmäßige und berufliche Differenzierung der Gesellschaft, das allmähliche Entstehen von Bürgertum und modernen kapitalistischen Wirtschaftsformen, die funktionale und soziale Polarisierung auch in der Adelswelt, das erhöhte Bildungsangebot, die Urbanisierung sowie die sich unter dem Vorzeichen des europäischen, vor allem des britischen Kolonialismus auch international, ja interkontinental verstärkende räumliche Mobilität:
All das führte dazu, dass die Menschen in Europa aus ihren traditionellen Bindungen und sozialen Verankerungen gelöst wurden und auch in der Wahrnehmung ihres eigenen Selbst über Generationen hinweg praktizierte Deutungsmuster ablegen mussten.
Diese Veränderungen führten nicht nur zu Verunsicherungen, ja ausgesprochenen Krisen. Sie ließen auch eine ausgeprägte Neigung entstehen, neue Einstellungs-, Bindungs- und Verhaltensoptionen aufzuspüren und zu nutzen.
Es entwickelte sich eine Nachfrage nach veränderten Formen von gesellschaftlichen Vernetzungen, nach neuen Formen von „sozialem Kapital“, und so wurde das 18. Jahrhundert zur Epoche der Assoziationsbildung und Geselligkeit.
Die Freimaurerei erwies sich nun offensichtlich als eine besonders attraktive Form neuer gesellschaftlicher Einbindung. Dies resultierte ebenso aus der breiten Nutzbarkeit des Bundes für die Befriedigung vieler unterschiedlicher sozialer und kultureller Bedürfnisse wie aus der Möglichkeit, die Logen und Logensysteme durch Veränderungen, durch Reformen, weiter zu entwickeln und an sich wandelnde Strukturbedingungen und sich ändernde Interessenlagen anzupassen.
Es gab viele Motivationen – oder genauer vielleicht – Motivationskomplexe, die die Freimaurerei rasch zu einer an Mitgliedern starken europaweiten sozialen und kulturellen, zugleich aber stark differenzierten Bewegung werden ließen, und ihre Inhalte bestimmten. Sie waren darauf angelegt, spezifischen, in ihrem Ansatz durchaus unterschiedlichen, ja sich nicht selten widersprechenden Funktionen zu genügen und damit permanente Differenzierungsanstöße zu vermitteln.
Da gab es
- die soziale Funktion, Menschen über Standesgrenzen hinweg als „bloße Menschen“ (Lessing), als Mitmenschen, als Menschenbrüder zusammenzuführen und ihnen neue gesellschaftliche Netzwerke, neue Geltungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, Chancen für eine eindrucksvolle Selbsterhöhung durch Grade und Orden sowie neue Formen von Geselligkeit und Unterhaltung anzubieten.
Da gab es
- die religiöse Funktion, Menschen durch ein neues, aber auf alten Wurzeln beruhendes Symbolsystem optimistisch-positive Einstellungen zu sich selbst, zum Kosmos und zur Transzendenz zu vermitteln und die im 18. Jahrhundert weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem etablierten Kirchentum zu kompensieren. Deshalb spürten die Kirchen ja auch bald die religiöse Konkurrenz der Logen, verdächtigten diese der religiösen Indifferenz und hermetisch-esoterischer Häresien verdächtigten und mit Verurteilungen der Freimaurerei reagierten.
Da gab es
- die geistesgeschichtlich-philosophische Funktion, Menschen geistige Freiräume zu schaffen, ihnen die Chance zu gewähren, die eigene Vernunft zu nutzen, sich am autonomen Gewissen zu orientieren und im Sinne eines „nichts geht über das laut denken mit einem Freunde“ (Lessing) den Diskurs über den Inhalt des Sittengesetzes, über die Strukturen einer besseren Welt, über die Ideen der Aufklärung zu führen.
Und schließlich war da
-
- die politische Funktion, Menschen in den Logen der zwar in Gärung geratenen, doch immer noch absolutistisch verfassten Gesellschaft einen unabhängigen „Moralischen Innenraum“ (Reinhart Koselleck) zu bieten, in dem im Vorgriff auf die kommenden bürgerlichen Revolutionen das „Geheimnis der Freiheit“ als „Freiheit im Geheimen“ erlebt werden konnte.
Es kann in der Tat nicht überraschen, dass dieses ja durchaus nicht homogene Bündel von Motiven und Funktionen bald zu mannigfaltigen Veränderungen und Verzweigungen der Freimaurerei geführt hat.
Adolph Freiherr Knigge, Zeitzeuge und Mitgestalter als Freimaurer, Illuminat und kritischer Geist, beschrieb die zerklüftete masonische Landschaft im kontinentalen Europa der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts folgendermaßen:
„Man weiß, dass es Freymaurer-Systeme gibt, deren ganze Verfassung auf politische Pläne und Einwirkung in die Staaten beruht; man weiß, dass es andere gibt, die dergleichen Operationen als schädlich und unerlaubt verbannen.
Man weiß, dass es Systeme gibt, welche die Einführung einer natürlichen allgemeinen Religion zum Endzweck haben, und selbst die Lehre Jesu nach dieser Art erklären; man weiß, dass es andere gibt, welche die Aufrechterhaltung der geoffenbarten christlichen Religion zum Grundpfeiler machen.
Man weiß, dass es Systeme gibt, welche speculative Wissenschaften zum Gegenstand des Ordens machen; man weiß, dass andere die Grenzen der Maurerey auf mögliche Tätigkeit zum Guten einschränken.
Man weiß, dass jene besondere Überlieferungen in der Hieroglyphen-Sprache (zu entdecken glauben), wo diese nur nach conventionellen Zeichen zu Beförderung grösserer Vereinigung suchen, folglich jene in den Geheimnissen die Hauptsache, diese (in ihnen) nur (einen) Mittelzweck finden.
Man weiß, dass einige Systeme alles was gut und edel ist, als einen Gegenstand des Ordens ansehen; andere hingegen nur einem einzigen, bestimmten, speciellen Zwecke nachzustreben (für) rathsam halten; dass einige die möglichste Ausbreitung suchen; andere sich auf eine kleine bestimmte Zahl einzuschränken (trachten).
Jedes dieser Systeme muss natürlicherweise in der Art, ihre Zöglinge zu bilden, in ihren Aufnahmen, in der Wahl der Mitglieder, in ihren Reden und Handlungen und in den Mitteln, welche sie wählen, einen Weg einschlagen, der oft dem schnurgerade entgegen ist, worauf andre wandeln.
Wie werden sie je in einem Punkt zusammentreffen?“
Die Feststellungen, die Knigge hier in Bezug auf die kontinentaleuropäische, insbesondere die deutsche Freimaurerei für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts trifft, sind ebenso aktuell geblieben wie die Frage nach den Perspektiven der Freimaurerei, die er daran anschließt und deren Relevanz bis in die Gegenwart geblieben ist.
Wenn man den Mut hat zu vereinfachen, so haben sich durch die Geschichte hindurch drei große masonische Komplexe herausgebildet, die – Lessings Ringen gleichend – bis heute teils in Harmonie, teils im Streit nebeneinander stehen oder auch in spezifischen Mischungen auftreten:
- die hermetisch-esoterische,
- die gnostisch-christliche und
- die aufklärerisch-humanistische Freimaurerei.
Gewiss waren für die Freimaurerei zugleich auch immer bestimmte Grundelemente konstitutiv, die über Länder und Zeiten hinweg dieselben blieben, und die es sinnvoll machen, bei aller Verschiedenheit von einem gesellschaftlich-kulturellen Formenkreis „Freimaurerei“ zu sprechen.
Zu diesen Grundelementen gehörten und gehören vor allem
- die abgeschlossene, durch verschwiegene Rituale geschützte, in der Regel männerbündische Gruppe,
- der initiatische Charakter der Rituale,
- die der Bauhüttenüberlieferung entstammende Bausymbolik, die später – insbesondere mit der Schaffung von Hochgradsystemen – ins Hermetisch-Esoterische und Gnostisch-Christliche erweitert und durch Rittersymbolik ergänzt wurde sowie
- der jeweils „lehrartspezifische“ Kanon von Werten und religiösen Orientierungen.
Diese übereinstimmenden Elemente erwiesen sich aber schon früh als unterschiedlich versteh- und ausgestaltbar. Nicht zuletzt der freimaurerische Wert- und Orientierungskanon war inhaltlich von Anfang an flexibel interpretierbar, vor allem in seiner Bedeutung für die politisch-gesellschaftlichen und philosophisch-religiösen Kontexte, in denen sich die Logen und Logensysteme definierten.
Unterschiedliche Konzepte
- etwa hinsichtlich der Frage, ob Freimaurerei einen ethisch orientierten Bund, ein „System of Morality“ oder einen religiösen Orden darstelle
- oder ob ausschließlich Christen oder alle Gott bekennenden Menschen in den Bund aufgenommen werden sollten
wirkten auf Inhalt und Form der Rituale zurück, was dann wiederum Denken und Diskurse zu bestimmten „Lehrarten“ der Freimaurerei verdichtete und ihnen Kontinuität verlieh.
Es ist zwar richtig, dass Symbole und Rituale in ihrer nunmehr drei Jahrhunderte überspannenden Geschichte die besonderen Merkmale der Freimaurerei sind, die sie von anderen ethisch-geselligen Assoziationen unterscheidbar machten, aber Symbole und Rituale bestimmten nicht, oder zumindest nur zum Teil, die konzeptionellen Inhalte der Freimaurerei, die sich von System zu System, ja oft von Loge zu Loge unterschieden, und die oft entsprechend der jeweils dominierenden ideologischen Grundlage und Interessenstruktur eine neue symbolisch-rituelle Fassung erhielten.
Auf dem Hintergrund der historischen Entwicklung hin zu differenzierten, ja deutlich unterschiedlichen Strukturen muss auch die gern betonte Beziehung der Freimaurerei zur Aufklärung problematisiert werden.
Freimaurerlogen konnten im Sinne der Aufklärung durchaus als Modelle bürgerlicher Gesellschaft verstanden werden, als soziale Keimzellen, in denen sich bürgerliche Moral diskursiv erarbeiten und im Miteinander der Brüder praktisch verwirklichen ließ. Das Geheimnis der Rituale und oft auch die Geheimhaltung der sozialen Praxis dienten dabei als Schutz, weil die politischen Verhältnisse ein öffentliches Verfolgen derartiger Absichten noch nicht zuließen.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mitglieder der Logen, die Logen selbst oder gar die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts herausbildenden freimaurerischen Systeme durchweg und generell „Beförderer der Aufklärung“ waren.
Aufklärung war eine Möglichkeit unter vielen. Männer, die sich als Aufklärer verstanden konnten die Freimaurerlogen als Möglichkeiten ihres lokalen Zusammenkommens nutzen, doch die Logen waren nicht auf Aufklärung als Inhalt angewiesen.
Auch Betrachter, die gern einen durchgehend engen Zusammenhang zwischen Freimaurerei und Aufklärung annehmen würden, müssen wohl der Feststellung des Bielefelder Historikers Rudolf Vierhaus zustimmen, dass auch ganz andere als Aufklärungsgedanken in die Freimaurerei eingeströmt sind, selbst solche, denen ein direkt anti-aufklärerischer Charakter zugeschrieben werden kann.
Für Vierhaus wurde dieser Einstrom durch diejenige Tendenz der Freimaurerei begünstigt, „die (Zitat) neben dem Versinken in bloße Honoratiorengeselligkeit ihre größte Gefahr ausmacht: die Anfälligkeit für Esoterik, Pseudomystik und Geheimnistuerei als Ausdruck einer selbst beigelegten, nach außen nicht rechtfertigungsbedürftigen Bedeutsamkeit.“ (Ende des Zitats).
Die Veränderungen und Differenzierungen, die Reformen, die kennzeichnend für die Geschichte der Freimaurerei gewesen und geblieben sind, haben sich nun
- teilweise „von unten“, aus den Logen heraus, evolutionär und allmählich, nach Orten und Systemen unterschiedlich vollzogen,
- teilweise erfolgten sie aber auch historisch gebündelt, im Kontext gesellschaftlich-politischer Veränderungen, in Schüben größerer und kleinerer Reformen.
In Deutschland kam es vor allem in der Mitte und im späten 18. sowie an der Wende zum 19. Jh. zu bedeutenden Veränderungsprozessen, als im Verlauf von Krise und Zusammenbruch der Strikten Observanz, eines Freimaurerritterordens, der sich – wie sich zeigte, vergeblich – auf den Templerorden zurückzuführen versuchte, mit Johann Wilhelm Zinnendorf, Ignaz Aurelius Feßler und Friedrich Ludwig Schröder Reformer wirkten, die für die weitere Entwicklung (und Differenzierung) der deutschen Freimaurerei prägend geblieben sind.
Reformen verbanden sich mit Reformdiskursen. Auch im Hinblick auf die Gestaltung der Gegenwartsfreimaurerei ist es lohnend, den Erörterungen nachzugehen, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert – oft im Anschluss an Lessings „Ernst und Falk“ geführt wurden.
Vier Autoren vor allem sind von herausragendem Interesse: Lessing selbst, Herder, Fichte und Krause, und das „laut Denken“ dieser vier sowie die Rezeptionsgeschichte um sie herum kennzeichnet beinahe schon im Alleingang die gleichsam „goldene Epoche“ der Freimaurerdiskurse in Deutschland, deren Niveau nie wieder erreicht.
Trotz aller Reformdebatten trat eine Konsolidierung der deutschen Freimaurerei allerdings erst im langen 19. Jahrhundert ein, in der Periode der eigentlichen Bürgergesellschaft, als sich auf dem Markt sozialer Einbindung gleichermaßen Nachfrage und Angebot stabilisierten.
Jetzt kam es zur Dominanz des bürgerlichen Elements in der Freimaurerei, jetzt fand die führende Rolle des Adels nach dem Modell der „Strikten Observanz“ ihr Ende.
Jetzt erfolgte in Deutschland sowohl eine langfristig wirksame Konsolidierung der christlichen „altpreußischen“ Freimaurerei als auch die Ausformung zahlreicher humanitärer Großlogen. Damit verfestigten sich die hierzulande tief verwurzelten, bis heute weiterwirkenden konzeptionellen und organisatorischen Unterschiede zwischen „humanitärer“ und „christlicher“ Freimaurerei, wobei die Sehnsucht nach Einheit, die sich in vielen Einheitsbestrebungen – nicht zuletzt dem Deutschen Großlogenbund von 1872 – manifestierte, immer wieder auf die Beharrungskräfte etablierter Strukturen traf.
Schließlich änderte sich die konfessionelle Struktur der deutschen Freimaurerei. Die Zahl katholischer Mitglieder ging rasch und gründlich zurück, einerseits durch die sich verschärfende antifreimaurerische Haltung der katholischen Kirche, andererseits durch die Sympathie der zumeist protestantischen Brüder Freimaurer mit der später im „Kulturkampf“ kulminierenden anti-katholischen Einstellung großer Teile des deutschen, insbesondere des norddeutsch-preußischen Bürgertums.
Reformen erfolgten auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Reformgroßlogen – wie (1907) der Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne und (1930) die Symbolische Großloge von Deutschland) entstanden.
Schließlich gab es bedeutsame strukturelle Veränderungen der deutschen Freimaurerei in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als während der Großmeisterschaft von Theodor Vogel und Hans Gemünd neue Strukturen zumindest für die „humanitäre“ Freimaurerei und mit den „Vereinigten Großlogen von Deutschland“ auch eine gemeinsame organisatorische Klammer der Freimaurerei in Deutschland geschaffen wurden.
Die Veränderungsprozesse innerhalb der Freimaurerei, die daraus resultierenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppierungen, die Reformantriebe, aber auch die immer wieder wirksam werdenden Kräfte, Reformen zu bremsen oder ganz zu verhindern, sind sowohl auf äußere als auf innere Gegebenheiten und auf das Wechselspiel zwischen externen und internen Faktoren zurückzuführen.
Zu den von außen wirkenden Faktoren gehört zunächst der sich wandelnde „Zeitgeist“, d.h. die jeweiligen kulturellen und religiösen Besonderheiten nationaler oder regionaler Art, die auf die Freimaurerei einwirken,
- etwa die an Mystizismen, Hermetik, Alchemie, Tempelrittern und ägyptischen Mysterientraditionen orientierte vorromantische Erinnerungskultur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die zum Entstehen der schier zahllosen Hochgradsysteme beitrug,
- oder die sich im 19. Jahrhundert durchsetzende „Bürgerkultur“, mit der viele Reformen der Freimaurerei – insbesondere im humanitären Sektor des Bundes – einhergingen.
Von großer Bedeutung sind weiter die Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Entwicklung der Freimaurerei vollzog, und die den freimaurerischen Gruppierungen hier eine stärker selbstbestimmt-demokratische Existenz erlaubten, ja abgefordert haben, während sie dort die Freimaurerei in starkem Maße zu politischer Loyalität und Anpassung veranlassten: Stichwort „völkische“ Freimaurerei im Deutschland der 1920er und frühen 1930er Jahre.
Hinzuweisen ist auch auf die Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur: im 18. Jahrhundert etwa auf den Abstieg im Adel durch Veränderungen innerhalb der absolutistischen Herrschaftsordnung bei gleichzeitiger Formierung und allmählichem Aufstieg des Bürgertums als besonderes Momentum des Hochgradrittersystems der „Strikten Observanz“, im 19. Jahrhundert auf die Entwicklung eines selbstbewussten, national eingestellten und religiös – sprich protestantisch – eingebundenen Bürgertums als Basis sowohl der „altpreußischen“ als auch der „humanitären“ Freimaurerei.
Von der deutschen Situation aus extern, in freimaurerischer Hinsicht intern sind die Auswirkungen der in den Basic Principles for Grandloge Recognition formulierten, international weithin akzeptierten Regularitätsvorgaben der Vereinigten Großloge von England, die freimaurerische Konzepte, rituelle Ausdrucksformen sowie masonische Kontaktmöglichkeiten beeinflussen und die Freiheit der Diskurse begrenzt.
Als „Reformmotor“ positiv zu werten ist dagegen das Auftreten charismatischer Persönlichkeiten wie Zinnendorf, Schröder, Feßler, Theodor Vogel oder Hans Gemünd, die gelegenlich freilich auch über das Ziel hinausschießen, wie es mir für Theodor Vogel im Falle der Begründung der VGLvD im Jahre 1958 gegeben scheint.
Schließlich liegt mir daran, das – über das Wirken charismatischer Einzelpersonen hinauswirkende oder sich mit ihm verbindende – Interesse von freimaurerischen Eliten, zu skizzieren, allerdings weniger im Hinblick auf ein Bewirken als auf ein Verhindern von Reformen.
Freimaurerei ist neben vielem anderen ja auch ein System subjektiver Selbstverwirklichung, ein Modus zur Generierung und zur Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes. In diesem Falle geht es den Brüder Freimaurern nicht allein und nicht vor allem um persönliche Wertorientierung und Weiterentwicklung des Bundes.
Es geht vielmehr um Möglichkeiten,
- den status quo zu erhalten,
- sich in Szene zu setzen,
- nach Ämtern zu streben und Auszeichnungen zu erlangen,
- kurz: es geht um den Erwerb von persönlichem symbolischen Kapital.
Bei hierarchischen Freimaurersystemen ist das symbolische Kapital auf den oberen Ebenen der Hierarchie konzentriert. Daher sind diese Systeme auf besondere Weise strukturbedingt konservativ. Denn jede Reform ginge zu Lasten des symbolischen Kapitals der oberen Ebenen der Hierarchie. Ein solcher freimaurerischer Konservatismus hat auch dann gute Chancen, sich zu erhalten, wenn er sich inhaltlich überlebt hätte, bzw. von den Brüdern Freimaurer als überlebt angesehen würde. Denn die Abhängigkeit von denen, die über Besitz und Vergabemöglichkeiten von symbolischem Kapital verfügen, veranlasst Anwärter darauf, sich anzupassen und auf häretische Strategien des masonischen Spiels zu verzichten.
Mein Fazit ist: Freimaurerei bietet von Anfang ein buntes Bild, weit bunter noch als das von mir skizzierte, sehr spezifische deutsche. Freimaurerei als rituelle, konzeptionelle und organisatorische Einheit hat es nie gegeben. Doch es gibt eine reiche freimaurerische Geschichte, an der sich die Freimaurerei der Gegenwart orientieren kann.
Freilich muss sie sich dabei fragen, welches die heute angemessenen inhaltlichen Aufgaben, institutionellen Formen und rituellen Ausdrucksweisen sind, wenn es darum geht der gültig gebliebenen Aufforderung zu genügen, sich als Freimaurer zu bewähren und das Sittengesetz zu befolgen.
Gewiss: Zukunft braucht Herkunft, aber Herkunft darf nicht zur Fessel werden. Aus der permanenten Bewegung und Differenzierung des Bundes in der Vergangenheit folgt für jede Freimaurergeneration die Notwendigkeit zu entscheiden, welche freimaurerischen Traditionen für sie besondere Bedeutung haben sollen, welche Formen und Inhalte sie für sich wählen will und welcher Reformen es bedarf, um gültig gebliebene Inhalte in eine nach innen und außen überzeugende Gegenwart der Freimaurerei zu übertragen.